Das Dreieck Psychoanalyse, Soziale Arbeit und Alter

Menschen, die keinen Halt – weder in sich selbst noch in der Gesellschaft – finden, drohen krank und marginalisiert zu werden. Seit der Industrialisierung schreiten Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse als Folge beschleunigter sozioökonomischer Prozesse fort. Die Lockerung von Traditionen führt dabei zum Verlust von Sicherheiten in Bezug auf Handlungswissen, Glauben und Normen. Viele müssen im Alter nach einer neuen sozialen Einbindung suchen (Beck 1986, 206; Böhnisch 1997, 25). Besonders Ältere sind mit Flexibilitäts-, Umstellungsfähigkeits- und Beschleunigungspostulaten überfordert. Eine fortschreitende, einem unreflektierten Autonomie- und Effizienzideal verpflichtete Subjektivierung fordert Selbstverwirklichungserfolge ein, die sich auf eine positive Lebensbilanz, auf gelingendes Alter bis hin zum gelingenden Sterben beziehen. Mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten im Dritten und Vierten Lebensalter steigen damit auch die Möglichkeiten zu scheitern. Arbeitsplatzkonflikte, Partnerschaftskrisen, Verluste und der Umgang mit Berentung sind keine Selbstläufer.

Gemeinsame Berührungspunkte

Soziale Arbeit und Psychoanalyse im Alter fokussieren auf dysfunktionale Lebensbezüge. Beide bieten Hilfen an, die von der konflikthaften Identität des Menschen als eigenständiges und abhängiges Wesen ausgehen und keine unreflektierte Anpassung intendieren. Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1930a) gilt lebenslang.

Soziale Arbeit und Psychoanalyse, beide oft unterschätzt, bewegen sich in gesellschaftlichen Übergangsräumen. Die Psychoanalyse berührt mit ihren Ausformungen der Triebpsychologie, der Ich-Psychologie, der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie, der Bindungstheorie und Mentalisierungstheorie Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Dabei werden Intimität und Versagung, chaotischer Primär- und geregelter Sekundärprozess sowie Anpassung und Rebellion reflektiert und bearbeitet (Kutter 1989; Stemmer-Lück 2012).

Historische Aspekte

Die Psychoanalyse, ein spätes Kind der Aufklärung, hat, wie die moderne Soziale Arbeit, ihren Beginn in der Epoche der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und ist u.a. von Naturwissenschaft und spätromantischer Geistesgeschichte beeinflusst. Sigmund Freud (1856–1939), der Begründer der Psychoanalyse, Zeitzeuge jüdischer Emanzipation im Kontext von Aufklärung und Industrialisierung, war selbst ein Grenzgänger sozialer Mobilität mit Armuts- und Aufstiegserfahrungen.

Es gibt zahlreiche Verbindungen von Sozialpädagogik, Sozialer Arbeit und Psychoanalyse. Erste Verbindungen von Psychoanalyse und Pädagogik stellte Ferenczi 1908 auf einem Kongress in Salzburg her. Weitere bedeutende Brückenbauer waren August Aichhorn und Siegfried Bernfeld. Aichhorn war Fürsorgeerzieher und Volkschullehrer. Sein 1925 erschienenes Buch Verwahrloste Jugend war bahnbrechend. Während Aichhorn die Möglichkeiten und Chancen der pädagogisch-therapeutischen Beziehung beschrieb, betonte Bernfeld die Grenzen erzieherischer Einflussnahme in seinem gleichfalls 1925 erschienenen Buch Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Nicht zu vergessen sind Anna Freuds und Dorothee Burlinghams Erfahrungen in der Reformschule in Wien-Hietzing.

Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Sozialen Arbeit und für die Pädagogik hat sich im englischsprachigen Raum dank Emigranten verbreitet, die dem Nationalsozialismus entkommen waren, wie Anna Freud, Bruno Bettelheim, Fritz Redl (1974), Heinz Kohut (1976) und Otto Kernberg. Anna Freud wirkte in Großbritannien auf die angewandte Psychoanalyse Winnicotts und Bowlbys ein. Kohut und Kernberg wurden als Vertreter der Selbstpsychologie von Aichhorns Erkenntnissen beeinflusst. Kernberg integrierte in seinem Behandlungsansatz Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie und berührte direkt die Handlungsfelder Sozialer Arbeit. Weiterentwicklungen der Synergie von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse erfolgten in den USA in den 1920er Jahren durch Alice Salomon, Jane Addams und Mary Richmond (Braches-Chyrek 2013). All diese Entwicklungen strahlten nach dem Zweiten Weltkrieg auf Deutschland aus.

In den 1960er und 1970er Jahren gingen in Deutschland entscheidende Impulse von Horst-Eberhard Richter (1972; 1998), Ernst Federn (1990) und Rudolf Eckstein (Kaufhold 1993) aus, die bis heute fortwirken. Leider entwickelte sich die Psychoanalyse medikozentrisch. Zunächst gab es zwar Ansätze von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse (Hochheimer 1959; Fürstenau 1964; Füchtner 1978; Kutter 1974; Körner 1980), aber Psychoanalytiker als Berufsgruppe beteiligten sich kaum daran. Die Verbindung zur Sozialen Arbeit wurde zwar immer wieder gesucht und wird auch im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik und im Verein Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen (Günter u. Bruns 2010; Bruns 2021) geknüpft, spielt aber in der stark auf die Behandlung im Krankenkassenformat orientierte Psychoanalyse und psychodynamische Psychotherapie eine untergeordnete Rolle.

Die Vernachlässigung Älterer und der mühsame Aufbruch

Soziale Arbeit und Psychoanalyse sahen lange ihre Schwerpunkte bei Kindern und Jugendlichen und bei Konfliktlagen des mittleren Lebensalters.

Soziale Altersthemen wurden von Malern wie Adolf Menzel und Heinrich Zille zwar schon im 19. und 20. Jahrhundert dargestellt, erreichten die Psychoanalyse aber erst relativ spät. Freud hielt Menschen ab einem Alter 50 Jahren für nicht mehr veränderungsfähig, sein Verhältnis zum eigenen Alter war ambivalent. Auch wenn Abraham (1919) erstmals von einer Psychoanalyse im Alter berichtete und sich erste Autoren ab den 1930er Jahren damit beschäftigten, so kam es im deutschsprachigen Bereich erst ab den 1980er Jahren zu einem »mühsamen Aufbruch« der Alternspsychoanalyse und -psychotherapie (Radebold 1992).

Zu dieser Zeit hatte die Psychoanalyse in der Sozialen Arbeit den Zenit ihres Einflusses schon überschritten. Gleichwohl beeinflusst psychoanalytisches Denken weiterhin den Alltag. Das zeigt sich in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit mit Älteren: in Krankenhäusern, in der Gerontopsychiatrie und der Alterspsychotherapie, in Beratungsstellen pflegender Angehöriger, in Altenheimen, in Einrichtungen für Obdachlose, in Rehabilitationseinrichtungen, im Strafvollzug (Andermann 2016), in Einrichtungen und Institutionen, die sich mit Missbrauchs- und Gewaltopfern beschäftigen, in der Betreuung von Migranten und Flüchtlingen, in der Palliativmedizin (Briggs et al. 2022; Engelhardt u. von der Stein 2024) und in der aufsuchenden Psychotherapie (Lindner 2014) bei zunehmend gebrechlichen Älteren. Alter als eigenständige Lebensphase mit Entwicklungspotenzial zu verstehen, fördert psychoanalytische Haltungen. Leider ist zu beobachten, dass mit der Medizinalisierung und Psychologisierung der Psychoanalyse und in neuerer Version mit der Etablierung eines eigenständigen Studienganges »Psychotherapie« Pädagogen, Sozialarbeiter, Soziologen, Theologen, Juristen und andere Berufsgruppen von der psychoanalytischen Weiterbildung ausgeschlossen werden.

Zukunftsaufgaben

Die Psychoanalyse bleibt nur lebendig, wenn sie sich den Zukunftsaufgaben zuwendet. Dazu gehört auch das Alter als gemeinsames Feld von Psychoanalyse und Sozialer Arbeit, das es vernetzt zu entwickeln gilt. Hierzu zählen: die Sensibilisierung Professioneller der Altenhilfe für den Einfluss der frühen Kindheit mit kulturellen und psychohistorischen Prägungen; die Bedeutung von Übertragung, Gegenübertragung, umgekehrter Übertragung und von lebenslangen Wiederholungszwängen in helfenden Beziehungen (Radebold 1973; 1992); und ein selbstreflektierter Umgang der professionellen Helfer mit eigenem Altern und Endlichkeit. Alle Kontakte mit Älteren finden in einem Vernetzungsgeflecht multipler intersubjektiver Räume statt.

Eine psychoanalytische Haltung berücksichtigt unbewusste Kräfte in Problemsituationen und die Beziehung in der Verknüpfung von Diagnose und Behandlung mit dem Ziel, Klienten bei selbstverantwortlichen Handlungen zu begleiten. Psychoanalytisches Denken und Handeln setzen die selbstreflexive Integration von Emotionalität voraus. Dies kann für die Zielgruppe älterer Menschen in einer Verbindung von Theorie und Praxis in konkreten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit gelingen, die es zu entwickeln und zu untersuchen gilt.

Das Kasseler Symposium 2024 hat sich dem Thema »Beziehungsfelder in Sozialer Arbeit und Psychotherapie mit Älteren« gewidmet. Wir danken allen Vortragenden für die nochmalige Überarbeitung ihrer Beiträge und Ihnen, der Leserschaft, wünschen wir eine anregende Lektüre dieses Tagungshefts.

 Literatur

Abraham K (1919) Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen im vorgeschrittenem Lebensalter. Intern Z Psychoanal 6(5): 113–117.

Aichhorn A (1925 [2005]) Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Bern (Hans Huber).

Andermann S (2016) Gefährlichkeit alter Menschen: ein Tabuthema. Psychotherapie im Alter 13(4): 361–372.

Beck U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Berlin (Suhrkamp).

Bernfeld S (1925 [2022]) Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M (Suhrkamp).

Bibring GL (1969) Das hohe Alter. Aktiva und Passiva. Psyche – Z Psychoanal 23(4): 262–279.

Böhnisch L (1997 [2004]) Sozialpädagogik der Lebensalter. München (Juventa).

Braches-Chyrek R (2013) Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinierung Sozialer Arbeit. Opladen (Budrich).

Briggs S, Lindner R, Goldblatt M, Kapusta N, Teising M (2022) Psychoanalytic understanding of the request for assisted suicide. Int J Psychoanal 103(1): 71–88. https://doi.org/10.1080/00207578.2021.1999773

Bruns G (2021) Zur Entstehung, Theorie und Praxis der psychoanalytischen Sozialarbeit. Psyche – Z Psychoanal 75(9/10): 764–799.

Engelhardt I, von der Stein B (2024) Kampf bis zuletzt. Psychoonkologische Behandlungen narzisstischer Patientinnen im polarisierenden Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht sowie Nähewunsch und Abstoßung. Psychotherapie im Alter 21(4): 391–407.

Federn E (1990) Woher kommt und was ist psychoanalytische Sozialarbeit? In: Becker U (Hg) Psychoanalyse und Soziale Arbeit. Mainz (Grünewald).

Ferenczi S (1908/1938) Psychoanalyse und Pädagogik. In: ders. Bausteine zur Psychoanalyse Bd III. Leipzig (Internationaler Psychoanalytischer Verlag) 9–22.

Freud S (1930a) Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV. Frankfurt/M (Fischer) 419–506.

Füchtner H (1978) Psychoanalytische Pädagogik. Über das Verschwinden einer Wissenschaft. Psyche – Z Psychoanal 32(3): 193–210.

Fürstenau P (1964) Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. In: Haug WF, Müller-Wirth C (Hg) Das Argument 29 – Schule und Erziehung I. Berlin (Argument-Verlag) 65–78.

Günter M, Bruns G (2010) Psychoanalytische Sozialarbeit. Stuttgart (Klett-Cotta).

Hochheimer W (1959) Zur Tiefenpsychologie des pädagogischen Feldes. In: Derbolav U, Roth H (Hg) Psychologie und Pädagogik: Neue Forschungen und Ergebnisse. Heidelberg (Quelle & Meyer) 207–238.

Kaufhold R (1993) Pioniere psychoanalytischer Pädagogik. Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld. psychosozial 53: 9–113.

Kernberg OF (1978) Borderline-Störung und pathologischer Narzissmus. Frankfurt/M (Suhrkamp).

Kohut H (1976) Narzißmus. Frankfurt/M (Suhrkamp).

Körner J (1980) Über das Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik. Psyche – Z Psychoanal 34(9): 769–789.

Kutter P (1974) Sozialarbeit und Psychoanalyse. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Kutter P (1989) Moderne Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewusster Prozesse. München (Internationale Psychoanalyse).

Lindner R (2014) Erste Erfahrungen in der aufsuchenden Psychotherapie mit Hochaltrigen. Psychotherapie im Alter 11(2): 199–211.

Radebold H (1973) Regressive Phänomene im Alter und ihre Bedeutung für die Genese depressiver Erscheinungen. Z Gerontol 6: 409–419.

Radebold H (1992) Psychosomatik und Psychotherapie Älterer. Berlin, Heidelberg, New York (Springer).

Redl F (1974) Erziehung schwieriger Kinder. München (Pieper).

Richter HE (1972) Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg sich selbst und andere zu befreien. Reinbeck (Rowohlt).

Richter HE (1998) Psychoanalyse im gesellschaftlichen Wandel. Psychoanalyse im Widerspruch 19: 31–43.

Stemmer-Lück M (2012) Beziehungsräume in der Sozialen Arbeit. Psychoanalytische Theorien und ihre Anwendung in der Praxis. Stuttgart (Kohlhammer).

Kontakt

Prof. Dr. Bertram von der Stein
Quettinghofstr. 10a
50769 Köln
E-Mail: Dr.von.der.Stein@netcologne.de

Betram von der Stein & Reinhard Lindner: Editorial zum Themenheft “Beziehungsfelder in Sozialer Arbeit und Psychotherapie mit Älteren”