Die therapeutische Dyade zwischen älteren Patient:innen und deutlich jüngeren Psychotherapeut:innen ist in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche. Außergewöhnlich nicht, weil sie selten wäre – ganz im Gegenteil: Angesichts einer alternden Patient:innenschaft infolge des demografischen Wandels und einer gleichzeitig stark gewachsenen Zahl von Psychologiestudierenden ist davon auszugehen, dass diese Konstellation zunehmend häufig auftritt. Umso überraschender ist, wie selten sie bisher wissenschaftlich untersucht wurde.
Außergewöhnlich ist sie vielmehr, weil sie kulturell etablierten Altersrollen zuwiderläuft. In Literatur und Film sind es zumeist ältere Figuren, die jüngere anleiten – man denke etwa an Yoda und Luke Skywalker, Dumbledore und Harry Potter oder Gandalf und Frodo. Wenn überhaupt, begegnet uns das Motiv der jüngeren Ratgeber:innen meist lediglich in Form des Technik-Coachs oder Social-Media-Guides für ältere Charaktere. In der Arbeitswelt hat sich daraus das Konzept des Reverse Mentorings entwickelt, bei dem jüngere Mitarbeitende ältere Kolleg:innen in Bereichen wie Digitalisierung, neuen Arbeitsweisen oder gesellschaftlichen Trends unterstützen.
In der Psychotherapie geht es jedoch nicht um Technikwissen oder Trendberatung, sondern um ein hochemotionales und intimes Beziehungsgeschehen, das ein tiefgehendes Verstehen erfordert. Jungen Therapeut:innen wird dabei eine Aufgabe zuteil, die gesellschaftlich und kulturell traditionell nicht mit dem frühen Erwachsenenalter verbunden wird. Das kann sowohl bei älteren Patient:innen als auch bei den jüngeren Therapeut:innen selbst Zweifel und Verunsicherung hervorrufen. Wie King bereits 1980 feststellte, kursiert unter Analytiker:innen bisweilen die Annahme, dass ältere Patient:innen jüngeren Therapeut:innen nicht vertrauen könnten. Wer als junge:r Psychotherapeut:in ältere Patient:innen behandelt, hat vermutlich selbst schon Sätze gehört wie: »Sie könnten mein Sohn/meine Tochter/mein Enkelkind sein.« Oder so etwas selbst gedacht.
Das vorliegende Heft widmet sich genau dieser Konstellation: Welche spezifischen Beziehungsdynamiken entstehen im psychotherapeutischen Kontakt zwischen Jung und Alt? Welche Herausforderungen, aber auch Potenziale ergeben sich aus der Altersdifferenz? Die Beiträge dieses Hefts geben Einblick in eine Konstellation, die alltäglich ist – und dennoch nach wie vor im Diskurs wenig sichtbar.
Es freut mich besonders, dass in diesem Heft Perspektiven aus allen psychotherapeutischen Richtlinienverfahren – psychoanalytisch begründet, kognitiv-verhaltenstherapeutisch und systemisch – auf die altersdiskrepante Dyade vertreten sind. Insgesamt versammelt das Heft fünf Beiträge. Zwei davon sind Übersichtsartikel mit starkem Anwendungsbezug. Beide skizzieren zunächst zentrale Aspekte der Kognitiven Verhaltenstherapie (Comeau & Wuttke) bzw. der Systemischen Therapie (von Sydow et al.) mit älteren Patient:innen und wenden sich anschließend der altersdiskrepanten therapeutischen Dyade zu: Während Comeau & Wuttke aus einer Vielzahl klinischer Beobachtungen praxisrelevante Überlegungen für den Umgang mit Chancen und Herausforderungen ableiten, diskutieren von Sydow et al. in drei Fallgeschichten konkrete Erfahrungen jüngerer systemischer Therapeutinnen in Ausbildung mit älteren Patient:innen.
Die anwendungsbezogene empirische Arbeit von Keppie et al. beleuchtet auf Grundlage qualitativer Interviews mit jüngeren psychodynamischen Psychotherapeut:innen (in Ausbildung) zentrale Beziehungserfahrungen in der Behandlung älterer Patient:innen mit einer Altersdifferenz von mindestens 30 Jahren. Insuffizienzgefühle sowie multigenerationale Übertragungsmuster – insbesondere umgekehrte und Enkelübertragungen – werden dabei als besonders prägend herausgearbeitet.
Jene, die sich wieder mehr psychoanalytische Kasuistiken in der Psychotherapie im Alter (PiA) wünschen, dürften sich über die beiden differenzierten und reflektierten Beiträge in der Rubrik Praxisbezogene Falldarstellungen freuen. Cárdenas Mijangos beschreibt in ihrem Beitrag die psychodynamische Behandlung einer 75-jährigen Patientin, die ihre 42 Jahre jüngere Behandlerin unter anderem in einer Zwillingsübertragung als jüngere Version ihrer selbst erlebte. Im Zentrum steht eine durch einen zentralen Satz der Patientin ausgelöste Assoziation zu der Figur Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Kreativ bezieht die Autorin die Geister der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf die psychodynamische Arbeit – und deutet diese Assoziation zugleich als Ausdruck einer Eigenübertragung, sodass die gemeinsame Arbeit nicht nur eine stille Begegnung mit den »Geistern« der Patientin war, sondern auch mit ihren eigenen Geistern.
Gombert analysiert in ihrem Beitrag Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken in der psychodynamischen Psychotherapie älterer Patient:innen durch jüngere Therapeut:innen – mit besonderem Fokus auf deren abwehrhafte Funktion. Anhand von drei Fallvignetten zeigt sie, wie existenzielle Themen durch kontraphobische Vitalisierung und libidinöse Übertragung, durch eine von Groll, Neid und Entwertung geprägte Verhärtung der Übertragungsbeziehung bis hin zum Therapieabbruch sowie durch die Funktionalisierung der Therapeutin als Erinnerungsbehälter im Dienste symbolischer Unsterblichkeit abgewehrt werden.
Auch der kritische Zwischenruf von Grünewald-Zemsch knüpft an das Leitthema des Hefts an, thematisiert die Beziehungsdynamiken im Aufeinandertreffen von Jung und Alt jedoch mit Blick auf die Generativität innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung und Institutionen. Der Text versteht sich zugleich als gedankliche Antwort auf Otto Kernbergs Polemik über die »Dreißig Methoden zur Unterdrückung der Kreativität von Kandidaten der Psychoanalyse« – und stellt die Frage: Gibt es nicht auch Methoden, um die psychoanalytische Ausbildung in die Zukunft zu bringen?
Abschließend noch ein persönlicher Blick auf den Entstehungsprozess dieses Hefts: Ich habe dieses Themenheft (übrigens mein erstes als PiA-Mitherausgeber) größtenteils während meiner Elternzeit betreut – in ständiger Nähe zum jungen Leben, während mich von angefragten Reviewer:innen verständliche Absagen erreichten: etwa mit Verweis auf eine Krebserkrankung oder die bewusste Entscheidung, keine neuen Aufgaben mehr anzunehmen. Auch das gehört zu den Spannungen, die das Thema dieses Hefts begleiten – das Aufeinandertreffen der Herausforderungen unterschiedlicher Lebensphasen.
Interessant – und vielleicht sinnbildlich – war auch die Rückmeldung in einem Gutachten, ob die für mich (und vermutlich viele der jüngeren Autor:innen) selbstverständliche gendersensible Sprache überhaupt zu PiA passe. Das ließe sich – durchaus großzügig – als Impuls der Jüngeren auffassen. Im Gegenzug möchte ich ganz unverhohlen eingestehen, wie sehr mich der Wissensschatz in den Gutachten älterer Kolleg:innen beeindruckt und auch ein wenig demütig gestimmt hat.
