Kritischer Zwischenruf zum Themenheft “Beziehungsfelder in Sozialer Arbeit und Psychotherapie mit Älteren ”
Hans Förstl:
Unselige Unsterblichkeit
Gullivers Struldbruggs Revisited (Abstract) (PDF)
Die abenteuerlichen Reiseberichte aus dem Zeitalter der Entdeckungen lieferten das Material für Jonathan Swifts politische Satire Gullivers Reisen. Der fiktive Schiffsarzt Lemuel Gulliver erreichte am 21. April 1709 die Südspitze von Luggnagg und etwa drei Monate später begegnete er dort den Unsterblichen, den Struldbruggs. Begeistert vom Menschheitstraum eines Lebens ohne Tod malte er sich die Vorteile aus – ewiges Lernen, Weisheit, altehrwürdige Tugend, höheres Wesen, Orakel des Volkes – erfuhr dann aber, dass diese Struldbruggs schon ab dem 30. Lebensjahr melancholisch und danach immer noch deprimierter werden; dabei auch ständig mit den körperlichen Beschwerden des Alters ringen; mit 80 Jahren vor dem Gesetz als tot gelten; mit 90 Zähne, Haare und ihr Gedächtnis verlieren (Abb. 1). Am glücklichsten seien noch diejenigen, die sich an gar nichts mehr aus ihren gesunden Tagen erinnern könnten. Ihre Erscheinung sei gespenstisch und sie würden von allen verachtet und sogar gehasst. Struldbruggs seien mürrisch, geschwätzig, halsstarrig, eingebildet und vor allem eigensüchtig. Es bleibt ihnen wenig anderes übrig, denn die Entwicklungen der Zeit gingen über sie hinweg und so verstünden sie nach einiger Zeit die moderne Kommunikation nicht mehr. Gulliver schämte sich nach dieser erschütternden Begegnung mit den Unsterblichen seiner Hoffnungen auf ein ewiges Leben und fühlte sich damit auch gegen die Todesangst gewappnet.
Abbildung 1: die unsterblichen Struldbruggs aus Luggnagg (Louis Rhead 1913; public domain).
Ein Kommentar
Der Wahn, unsterblich wie ein Struldbrugg zu sein, scheint selten (Cullivan u. Lawlor 2002), die große Hoffnung auf ein sehr langes und glückliches Leben bei bester Gesundheit ist jedoch immer noch weit verbreitet. Tatsächlich stieg die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten stark an, ohne dass sich die Phase guter Gesundheit in gleichem Maße verlängerte – also eher Struldbrugg denn Peter Pan (Olshansky 2021).
Swift/Gulliver berichteten auch bei den Langlebigen von einem regelhaften Anstieg der somatischen Morbidität mit den Dekaden, und dies scheint sich in aktuellen Daten zu bestätigen (Bickel et al. 2025), wobei eine immer elegantere, individualisierte medizinische Behandlung mit dem Ziel gesunder Methusalems hoffnungsfroh angestrebt wird (Baliga u. Young, 2010). Während Swift/Gulliver noch mit einiger Selbstverständlichkeit vom zwangsläufigen Eintritt einer Demenz mit den Jahrzehnten ausgegangen waren und sich mit dieser Sichtweise in eine antike Tradition stellten (Karenberg u. Förstl 2006), geht die Forschung heute davon aus, dass sich der Erfolg von einer Frühdiagnostik der Risikofaktoren, von Prävention und Prophylaxe sogar auf die Kognition und Verhinderung einer Pflegebedürftigkeit im Alter erstrecken kann (Bickel et al. 2025; Frölich et al. 2023).
Verstörend wirkte die unausweichliche Egozentrizität der Struldbruggs, die nicht mehr imstande waren mit den kulturellen Veränderungen in ihrer Umwelt Schritt zu halten (Förstl 2020). Sie wurden in Luggnagg mit 80 Jahren grundsätzlich enteignet und danach mit dem geringstmöglichen Aufwand zu Lasten der Allgemeinheit versorgt. Verachtet wurden sie vermutlich nicht nur wegen ihrer entsetzlichen Erscheinung, sondern auch wegen der Sozialleistungen, die von anderen zu tragen waren. Notwendige Rationierungen wurden auch nach Swift/Gulliver anhand der langlebigen Struldbruggs thematisiert (Lebel u. Kane 1988), Gesundheitskosten hochgerechnet (Gustavsson et al. 2017) und letzte gesellschaftliche Konsequenzen ins Visier genommen (Aner u. Hewer 2025).
Ein Vergleich
Swifts Gulliver entwickelte eine radikale Sicht von Alter und Tod – Satire eben. Aktuell werden ähnliche Überlegungen behutsamer angestellt und Diskussionen mit mehr Zurückhaltung geführt. Swift beziehungsweise Gulliver erschienen
– endloses Leben ohne Lebensqualität nicht lebenswert, aber möglich. Nach moderner Auffassung ist Unsterblichkeit unmöglich, aber die lange Aufrechterhaltung von Lebensqualität ein realistisches Ziel.
– Gebrechen unausweichliche Begleiterscheinungen des Alterns. Derzeit wird angenommen, dass sich nicht nur das Leben verlängern, sondern auch die Morbidität erfolgreich komprimieren lässt.
– Demenz und Depression als natürliche Konsequenz langen Lebens. Heute werden Erkrankungen von Gehirn und Psyche nicht länger schicksalhaft hingenommen.
Fazit
Die Einstellungen haben sich also vom radikal Satirischen zum realistisch Machbaren verändert. Das einfache, das existenzielle Grundproblem ist aber immer noch das gleiche: Wir sterben. Dem Kirchenmann Jonathan Swift fiel es leicht, sich derart geringschätzig, nahezu misanthropisch über die eitle Hoffnung der Menschen auf Unsterblichkeit hienieden zu erheben. Für ihn endete das Leben schließlich nicht mit dem Tod.
Literatur
Aner K, Hewer W (2025) Assistierter Suizid im Alter als gesellschaftliches Phänomen. Z Gerontol Geriat 58(1): 1–4.
Baliga RR, Young JB (2010) Pharmacogenomics – transforming medicine to create a world of immortal Struldbruggs or even a Methusaleh? So be it! Heart Failure Clin 6(1): xi-xiii.
Bickel H, Nimmrichter B, Pürner K (2025) INVADE – a real-life primary care long-term intervention program for brain health – results from 2013 to 2020. Gesundheitswesen. https://doi.org/10.1055//a-2525-2794
Cullivan R, Lawlor B (2002) A delusion of immortality – the dilemma of the Struldbruggs. Ir J Psych Med 19(1): 32–34.
Förstl H (2020) Theory of Mind und altersassoziierte Egozentrizität. Psychotherapie im Alter 17(4): 417–430.
Frölich L, Arnim C, Bohlken J (2023) Leichte kognitive Beeinträchtigung (MCI) in der altersmedizinischen Praxis: Patientenorientierung, Diagnostik, Behandlung und Ethik. Z Gerontol Geriat 56(44): 492–497.
Gustavsson A, Green C, Jones RW (2017) Current issues and future research priorities in health economic modelling across the full continuum of Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement 13(3): 312–321.
Karenberg A, Förstl H (2006) Dementia in the Graeco-Roman world. J Neurol Sci 244(1–2): 5–9.
Lebel RR, Kane RS (1988) Setting limits in Luggnagg. New Engl J Med 319: 120.
Olshansky SJ (2021) Aging like Struldbruggs, Dorian Grey or Peter Pan. Nature Aging 1 (Suppl 1): 576–578.
Kontakt
Prof. Dr. H. Förstl
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, TUM
Ismaningerstr. 22
81476 München
E-Mail: hans.foerstl@tum.de