Zum Titelbild von Bertram von der Stein und Markus Hagen

Bertram von der Stein (Köln)

Das Titelbild soll zu Assoziationen über den Dreiklang »Soziale Arbeit, Psychoanalyse und Alter«, Thema des Kasseler Symposiums im Jahre 2024, anregen: Der hochaltrige Sigmund Freud steht mit einer roten Rose vor dem Gießhaus in Kassel. Er wirkt etwas verschämt neben den psychoanalytischen PionierInnen der Sozialen Arbeit Bertha Pappenheim und August Aichhorn. Links, etwas abseits, steht Freuds Behandlungscouch. Ein Spannungsfeld von distanzierter Nähe. Freud, dessen Theorien hochrelevant für die Soziale Arbeit sind, hat zwei Themen, Alter und soziale Arbeit, die sein Leben wesentlich bestimmten, anderen überlassen (Aichhorn 1925; Bernfeld 1925). Er litt selbst, wie aufgrund eines Briefwechsels mit Max Schur (1973) nachvollziehbar, unter Ängsten vor dem Alter. Er bezeichnete sich mit 45 Jahren als alt, hielt die psychosexuelle Entwicklung mit Eintritt des Erwachsenenalters für abgeschlossen und riet daher von Psychoanalysen Älterer ab. Gleichwohl hat er sich über Vergänglichkeit und Alter geäußert (Freud 1915b; 1916a; 1920g). Wenige psychoanalytische Autoren der Anfangszeit (Abraham 1919; Ferenczi 1939; Kaufmann 1937) wagten den diskreten Aufstand gegen die Widerstände des Patriarchen. Ein hellsichtiger Artikel von Grete Bibring (1969), die Leitplanken der Psychoanalyse im Alter aufzeigte, blieb weitgehend unbeachtet, bis die Psychoanalyse im Alter ab den 1980er Jahren stärker in den Vordergrund trat (Radebold 1992).

Ähnlich verhält es sich mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, von der Freud auch persönlich betroffen war: So schrieb er über den sozialen Abstieg seiner Familie, über die Anfangsjahre in Wien, die hart gewesen und es nicht wert seien, sich daraus etwas zu merken (Freud 1899a). Er erlebte, ähnlich wie Heinrich Zille, der die soziale Lage zum Zentralthema seines Schaffens machte (Fischer 2011), die mühseligen Aufbruchsversuche seiner Eltern und seinen eigenen sozialen Aufstieg als akademischer Außenseiter in Wien, einer Metropole des 19. Jahrhunderts. Wenngleich Freud seine Armutserfahrungen nicht verleugnete, stellte er sie nicht in den Vordergrund. Familienbilder aus späteren Jahren, die üblichen zeitgenössischen bildungsbürgerlichen Wohlstand vermitteln (Freud et al. 1985,158,193), übertünchen die anfängliche Armut. Dass heute in vielen Ländern die Psychoanalyse, deren Gründungsgeneration meist aus benachteiligten Milieus stammte, als elitäres Behandlungsverfahren angesehen wird, ist eine bedenkliche Entwicklung. Die destruktiven Zuspitzungen des Alters und der sozialen Frage – Gebrechlichkeit, sozialer Abstieg und Dissozialität – sind denn auch bis heute keine populären Themen.

Allerdings gibt es an der Universität Kassel, als Gesamthochschule infolge der Bildungsreform der 1960er Jahre gegründet, eine Tradition der Kooperation von Psychoanalyse und Sozialer Arbeit. Stellvertretend für viele andere seien hier die Namen Hilde Kipp und Hartmut Radebold erwähnt. Daher ist die Darstellung psychoanalytischer Protagonisten vor dem Gießhaus in Kassel eine nachvollziehbare Assoziation. Dieses Gießhaus hat mit seiner eigenen Entwicklung und Veränderung unmittelbar mit den Leitthemen dieses Heftes zu tun. 1836/37 vom Industriellen Carl Anton Henschel (1718–1861) gebaut und bis 1918 Gießerei und damit Ort schwerer körperlicher Arbeit, ist es mit der sozialen Frage der Industrialisierung ebenso verbunden wie mit dem Nationalsozialismus: Ab 1918 diente das Gießhaus als Museum der Firma Henschel, einem wichtigen Waffenproduzenten des Zweiten Weltkrieges, der dort in der NS-Zeit Hakenkreuzfahnen beherbergte. Mit der schuldhaft schmerzlichen Verarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocausts ist die von Radebold und Mitarbeitenden in den 1980er Jahren etablierte Psychotherapie im Alter verbunden. Darüber hinaus muss das Gießhaus als Architekturzitat gewürdigt werden. Es lehnt sich an das römische Pantheon an, ein allen Göttern Roms geweihter antiker Tempel mit einer charakteristischen Kuppelkonstruktion. Henschel verband in modifizierter Form Größenfantasien mit einer proletarischen Arbeitsstätte und schuf damit, vermutlich unfreiwillig, ein »Pantheon der kleinen Leute«, die unter der sozialen Ausbeutung der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts zu leiden hatten.

Seit 1978 wird das Gießhaus als Veranstaltungsraum der Universität/Gesamthochschule Kassel genutzt und wurde zum traditionellen Tagungsort unseres Symposiums »Psychoanalyse und Alter«. Ein geschichtsträchtiger, ambivalenter und würdiger Ort zugleich, der die Themen Soziale Arbeit, Alter und Psychoanalyse zusammenbringt und inspiriert. Zu dieser Inspiration gehört auch Freuds Couch, die im Titelbild vor dem Gießhaus steht. Die Couch ist gedacht als Hinweis auf die Anwendung der Psychoanalyse in der Sozialen Arbeit, die sich eben nicht im geschützten Rahmen einer Einzelpraxis ereignet. Damit ist uns eine Zukunftsaufgabe gestellt: In einer Zeit, in der viele psychoanalytische Begriffe wie Unbewusstes, Übertragung, Gegenübertragung und Wiederholungszwang zum Alltagsgut geworden sind und die Psychoanalyse ihren Einfluss in Universitäten, in der Sozialen Arbeit und in der Psychotherapie im Alter eingebüßt hat, gilt es, praxisorientierte Neuanfänge zu wagen. Vieles, was um die Jahrtausendwende zusammengetragen wurde (Wellendorf 1998), gilt es, weiterzuentwickeln und vor allem beim Dreiklang unserer Themen wissenschaftlich zu bearbeiten. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert und auch die sozialen Fragen stellen sich in jeder Epoche von Neuen.

Literatur

Abraham K (1919) Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen im fortgeschrittenem Lebensalter. Intern Z Psychoanal 6(5): 113–117.

Aichhorn A (1925) Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Bern (Hans Huber).

Bernfeld S (1925) Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp 1967).

Bibring GL (1969) Das hohe Alter. Aktiva und Passiva. Psyche – Z für Psychoanalyse 23(4): 262–279.

Ferenczi S (1939) Beiträge zum Verständnis der Psychoneurosen des Rückbildungsalters In: Ders. Bausteine der Psychoanalyse Bd 3. Bern, Stuttgart, Toronto (Huber) 180–188.

Fischer R (2011) Heinrich Zilles Berlin. Sein Milljöh in Zeichnungen und zeitgenössischen Fotografien. Köln (Komet).

Freud E, Freud L, Grubrich-Simitis I (1985) Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).

Freud S (1899a) Über Deckerinnerungen. GW I. Frankfurt a.M. (Fischer) 531–554.

Freud S (1915b) Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X. Frankfurt a.M. (Fischer) 210–232.

Freud S (1916a) Vergänglichkeit. GW X. Frankfurt a.M. (Ficher) 358–361.

Freud S (1920g) Jenseits des Lustprinzips. GW XIII Frankfurt a.M. (Fischer) 367–383.

Kaufmann MR (1937) Psychoanalysis in Late-Life Depression. Psychoanalytic Quarterly 6(3): 308–355.

Radebold H (1992) Psychosomatik und Psychotherapie Älterer. Berlin, Heidelberg, New York (Springer).

Schur M (1973) Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).

Wellendorf F (1998) Der Psychoanalytiker als Grenzgänger – Oder: Was heißt psychoanalytische Arbeit im sozialen Feld. In: Eckes-Lapp (Hg) Psychoanalyse im Sozialen Feld. Gießen (Psychosozial) 13–32.

Kontakt

Prof. Dr. Bertram von der Stein
Quettinghofstr. 10a
50769 Köln
E-Mail: Dr.von.der.Stein@netcologne.de


 

Sigmund Freud, Bertha Pappenheim und August Aichhorn vor dem »Pantheon der Kleinen Leute«

Zum Themenheft "Beziehungsfelder in Sozialer Arbeit und Psychotherapie mit Älteren”